Ökonomin Irmi Seidl:
Wachsen oder Nachwachsen?
Wie lässt sich das Wachstum der Wirtschaft verfolgen, wenn natürliche Ressourcen derzeit nicht mal genug Zeit zum Nachwachsen haben? Und ist Wirtschaftswachstum überhaupt ein nachhaltiges Ziel? Die Ökonomin Irmi Seidl zeigt Möglichkeiten auf, wie sich unsere Gesellschaft und Wirtschaft anders weiterentwickeln könnten und sollten.
Artikel von Kira Rosenstingl
Wir haben eine Utopie vor uns: Zugang zu sauberem Wasser und Schulbildung für alle Menschen. Kein Hunger, keine Gewalt und keine extreme Armut mehr. Stattdessen Gleichberechtigung, rücksichtsvoller Umgang mit natürlichen Ressourcen und friedliche Kooperation zwischen Menschen auf der ganzen Welt. Und das schon in 10 Jahren! In 10 Jahren?
Bis 2030 haben sich die Vereinten Nationen die Erreichung der Sustainable Development Goals (SDGs) vorgenommen. 17 ambitionierte Ziele für nachhaltige Entwicklung finden sich darin wieder, die parallel und ineinander greifend verfolgt werden sollen. Doch geht das überhaupt? Lassen sich alle Ziele miteinander vereinbaren?
Diese Frage wird immer wieder aufgeworfen, mitunter von der Ökonomin Irmi Seidl. Sie ist Leiterin der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), sowie Titularprofessorin an der Universität Zürich und in der Lehre tätig. In einem ausführlichen Interview erläutert sie ihre Einstellung zum Wirtschaftswachstum.
Die Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit
Irmi Seidl kritisiert das Ziel Nummer 8: Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern.
Ist Wirtschaftswachstum tatsächlich ein nachhaltiges Ziel und lässt es sich mit den Zielen 12 und 13 vereinbaren, die nach nachhaltigem Konsum und Produktion, sowie Maßnahmen für den Klimaschutz streben? Die Wachstumskritikerin bezweifelt dies: „Weil wir uns so abhängig vom Wirtschaftswachstum machen, ergreifen wir nicht die nötigen umweltpolitischen Maßnahmen. Denn immer steht die Befürchtung im Raum, dies könnte das Wachstum bremsen.“
Dabei sei Wirtschaftswachstum ein Teufelskreis, den wir uns selbst gebaut haben: „Der Staat möchte Wachstum, denn wachsen die Einkommen, wachsen auch die Steuereinnahmen. Weil die Unternehmen steuerlich fortwährend entlastet werden, steigen die Abgabesätze auf Erwerbseinkommen und Konsum. Also fordern die Menschen höhere Löhne, was die Automatisierung vorantreibt, weshalb es mehr Wachstum braucht, damit die Leute dennoch Arbeit haben.“ Unser derzeitiges System funktioniert nur aufgrund von Wachstum, doch dies hat viele der heutigen Probleme hervorgebracht.
Eines unserer wirtschaftlichen Probleme ist die ungleiche Verteilung von Wohlstand auf der Welt. Dies wird in den SDGs behandelt, indem ein jährliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in den am wenigsten entwickelten Ländern von mindestens 7 Prozent aufrechterhalten werden soll. Dabei war das BIP nie als Maß für Wohlstand gedacht und weist enorme Lücken in sozialen und ökologischen Bereichen auf, die großen Einfluss auf die Lebensqualität haben.
Mögliche nächste Schritte – ein Denkanstoß
Die Ökonomin kritisiert nicht nur, sie bringt konstruktive Vorschläge zur Annäherung an eine klimafreundliche Postwachstumsgesellschaft. Man könne das Bruttoinlandsprodukt etwa mit weiteren wichtigen Indikatoren ergänzen, wie Erwerbstätigkeit, soziale Gerechtigkeit, Staatsverschuldung und dem ökologischen Fußabdruck. Das Ziel sei dann, in jedem dieser Bereiche möglichst gut dazustehen – um das zu erreichen müsse man wiederum die politischen und wirtschaftlichen Prioritäten verschieben. Es wäre dann letztlich für einen Staat genauso wichtig, einen kleinen ökologischen Fußabdruck und hohe soziale Gerechtigkeit zu erreichen wie ein hohes Bruttoinlandsprodukt.
Weitere Ziele sollten soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung, der Umbau von Verkehrssystemen und der Ausbau von Erneuerbaren Energien sein. Es sollten weniger Dinge produziert und konsumiert werden, die schnell wieder weggeworfen oder kaum gebraucht werden – dies schont Ressourcen und vermeidet Abfälle. Hier spielen kommunale Umwelt- und Abfallberater*innen eine tragende Rolle, da Bewusstseinsbildung und aktive Schritte Richtung Kreislaufwirtschaft wichtige Schlüsselpunkte für eine nachhaltige Zukunft darstellen.
Mehr Infos …
Interview mit Irmi Seidl auf migrosmagazin.ch
Blog Postwachstums von Irmi Seidl und Angelika Zahrnt
VABÖ-News: Brauchen wir noch Wirtschaftswachstum?
VABÖ-News: Gesellschaftlicher Wohlstand mit weniger Ressourcen möglich
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